Internet?
Gammelfleisch?
Politik?
Nein. Als Schwerpunkt für seine Pfingst-Ausgabe hat „Der Spiegel“ in diesem Jahr ein Thema gewählt, das alle betrifft: Das Sterben.
Unter dem Titel „Ein gutes Ende“ versucht das Hamburger Nachrichtenmagazin, „Wege zu einem würdevollen Sterben“ aufzuzeigen.
„Gut“ und „Ende“ (von allem): Was wie ein Widerspruch in sich klingt, geht in diesem Fall tatsächlich auf: Laura Höflinger, Anna Kistner und Manfred Dworschak, die für die Geschichte verantwortlichen Autoren, tun das auf so einfühlsame, aber nie übergspürige Art und Weise, dass man die Lektüre auch – und vor allem – jedem und jeder empfehlen kann, in dem der Gedanke, dereinst endgültig zu verschwinden, bestenfalls beklemmende Gefühle auslöst.
Hemmungen vor einer Auseinandersetzung mit dem für die meisten sehr unangenehmen und entsprechend gerne verdrängten Thema bauen die Journalisten gleich zu Beginn ab. „Sterben ist die grösstmögliche Grausamkeit“, stellen sie fest, und begeben sich damit auf Augenhöhe mit vermutlich 99,9 Prozent ihrer Leserinnen und Leser. Aber statt in der Kundschaft weiter Ängste zu schüren, nehmen Höflinger, Kistner und Dworschak sie an der Hand und führen sie sachte hinein in ein emotional total vermintes Gelände, in dem es kaum Gewissheiten gibt, sondern fast nur Prophezeiungen und Fantasien.
Erfreulicherweise beliessen die „Spiegel“-Autoren es nicht dabei, mit Ärzten und Pflegerinnen über die eher theoretischen Aspekte des Sterbens zu reden. Sie gingen zu Menschen, die vor Kurzem einen geliebten Mitmenschen verloren haben oder die sich damit abfinden mussten (und müssen), liebe Mitmenschen bald für immer zurückzulassen. Sie gingen, um kurz in die Fussballersprache zu wechseln, „dahin, wo es weh tut“.
Und kehrten von dort mit Erkenntnissen zurück, die einfach nur gut tun.
Eine Seniorin, deren Mann neulich verstorben ist, sagt zum Beispiel, sie habe „keine Angst“ vor dem Sterben. Vielmehr freue sie sich auf das Wiedersehen mit ihrem Michael. Davon, dass sie und ihr Liebster dieses Wiedersehen in nicht allzuferner Zeit werden feiern können, ist die Frau überzeugt. Schliesslich wisse er ja, was er zu tun habe: Jedesmal, wenn sie vor dem Einschlafen mit dem Bild ihres Gatten auf dem Nachttischchen spreche, sage sie zu ihm: „Vati, hol mich bald zu dir.“ Deshalb – weil sie wisse, wohin es gehe – werde sie die letzte Reise „mit einem Lächeln auf den Lippen“ antreten.
Die demente Frau im Heim für Schwerstpflegebedürftige, die in all dem Dunkel, das sie umgibt, immer wieder Licht sieht und sich trotz allem ein bisschen Lebensfreude bewahrt hat; oder die junge Frau, die keinen Sinn darin sieht, mit einer unheilbaren und tödlich verlaufenden Nervenkrankheit zu hadern und die stattdessen Kraft aus Aufmerksamkeiten schöpft, die für andere Leute kaum mehr wahrgenommene Selbstverständlichkeiten sind: Sie stehen als mutmachende und hoffnungenspendende Beispiele dafür, wie „man“ dem Ende entgegengehen kann, ohne die verbleibende Zeit panisch mit einem sowieso sinnlosen Kampf gegen das Schicksal (oder den natürlichen Lauf der Dinge. Oder was auch immer.) zu vergeuden.
Ganz besonders berührend ist die Passage über den krebskranken Buben. Er blickte dem Tod mit einer Gelassenheit ins Gesicht, über die die meisten Erwachsenen wohl nur fassungs- und verständnislos und demütig staunen können. Im Laufe der Jahre hatte der junge Patient eine Beziehung zu einem Drachen aufgebaut, den er in einem Buch kennengelernt hatte. Das Fabelwesen begleitete den Buben durch sein gesamtes Leiden. Doch Angst? Nicht die Spur: „Wenn ich sterbe, holt mich mein roter Drache“, habe der Bub gewusst. Als er schliesslich im Sterben gelegen sei, habe die Krankenschwester gesagt: „Ich mache mal das Fenster auf. Der Drache klebt schon am Fenster.“
Wenig später sei der Bub gegangen.
Die Familie des Jungen hatte den Drachen in ihr Leben integriert. Die Mutter vertraute dem „Spiegel“ an, dass sie ein paar Tage nach dem Tod ihres Sohnes einen Brief an den Drachen geschrieben habe. Sie habe ihm erzählt, wie ihr Bub am Schluss noch einmal tief atmete, seufzte – und wie es danach „nur noch Ruhe und Frieden“ gegeben habe. „Und die Gewissheit, dass es gut so war.“
Zehn Seiten umfasst die sehr, sehr lesenswerte Geschichte über das Sterben und den Tod. Ich glaube nicht, dass auch nur eine Zeile dieser Reportage mit dem Hintergedanken verfasst wurde, „jetzt machen wir mal wieder Auflage mit einem grossen Tabu-Thema!“. Vielmehr ging es den Autoren erkennbar darum, die Menschen dazu zu ermuntern, sich vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben ernsthaft, aber unverkrampft, mit dem Tod – auch mit ihrem eigenen – zu beschäftigen.
„Mit Sprechen und Planen“, haben die Autorinnen und der Autor bei ihren Recherchen erfahren, „kriegt man die Angst weg“. Das wiederum sei Voraussetzung dafür, sich im Gespräch mit anderen oder in persönliche Gedanken versunken unaufgeregt mit dem Ende zu befassen. „Wer darüber redet, beginnt, den Tod als Teil des Lebens zu begreifen“, heisst es in dem Text. Und: „Wer fragt und zuhört, erfährt, dass er entgegen aller Erwartung vieles selbst bestimmen kann auf dem Weg zu seinem Ende.“
Wie einfach das geht; wie spielerisch der Umgang mit dem Tod sein kann, zeigt Millionen von Leserinnen und Lesern ein kleiner Bub mit seinem roten Drachen.