Was während der Pandemie galt (wir erinnern uns dunkel: ein Virus. Millionen von Toten. Unsägliches Leid wegen Masken und Zertifikaten), gilt beim Krieg in der Ukraine erst recht: Gut, gibt es Fachleute, die immer alles einordnen können, und toll, gibt es Medien wie „Spiegel Online“, die sie noch so gerne zu Wort kommen lassen – bei Bedarf auch am selben Tag auf derselben Seite (siehe oben).
Sowie Journalisten, die an ihren Schreibtischen auch im unübersichtlichsten Schlachtengetümmel den Durchblick behalten. Einer von ihnen ist Michael Thumann. Er analysiert in der „Zeit“: „Dass Putin die Gefechtsbereitschaft der Atomwaffen angeordnet hat, könnte ihren Einsatz bedeuten – muss es aber nicht.“
Die Frage ist: Wer war zuerst da? Das Huhn (die Medien) oder das Ei (die Experten)?
Die Antwort lautet: das Huhn.
Bis gegen Ende des letzten Jahrtausends war es den Journalistinnen und Journalisten vorbehalten, ihrer Kundschaft die Welt zu erklären. Dann kam das Internet – und plötzlich hatten die Leserinnen und Leser die Gelegenheit, zu überprüfen, ob das, was ihnen ihre Zeitung – und später deren Onlineportal – vorsetzte, stimmt.
Konnte der Redaktor bisher einfach schreiben, die Natronlauge, die aus einer nahegelegenen Fabrik in den Dorfbach geflossen war, sei giftig, benötigte er nun einen Fachmann, der das bestätigte. Also rief er einen Chemiker an. Erst, wenn dieser sagte, Natronlauge sei giftig, konnte der Journalist wie geplant titeln: „Gift im Trinkwasser“.
Es dauerte nicht allzulange, bis zu fast jedem Thema Expertenwissen gefragt war. Für die Medienschaffenden war das insofern gäbig, als sie sich zeitaufwändige Recherchen nun sparen konnten: ein Anruf bei einem Psychologen oder eine Mail an den Kantonsarzt genügte, und schon hatte die Geschichte Hand und Fuss.
Manche Experten realisierten, dass von dieser Vorgehensweise auch sie profitieren konnten. Je häufiger sie zitiert wurden, desto mehr stieg ihre Bekanntheit. Wer sich mündlich oder vor einer Kamera gut präsentieren konnte, galt schnell als Koryphäe auf seinem Gebiet.
Ein Beispiel von vielen ist Daniel Jositsch. Er hatte in Zürich jahrelang weitgehend anonym als Anwalt gearbeitet. Irgendwann tauchte er im Rahmen einer Serie über spektakuläre Verbrechen als „Strafrechtsexperte“ im Schweizer Fernsehen auf. Von da an gab es kein Halten mehr: Sobald sich irgendwo ein juristisches Problem stellte, wurde Jositsch um eine Einschätzung gebeten.
Mit dem Coronavirus schoss das Expertentum ins Kraut: Nach dem Motto „Es ist zwar längst alles gesagt, aber noch nicht von jedem“ verging während der Pandemie kein Halbtag, an dem sich nicht ein Virologe oder eine Epidemiologin zum aktuellen oder möglicherweise zu erwartenden Stand der Dinge geäussert hätte.
Dasselbe passiert jetzt, beim Krieg in der Ukraine, erneut, und in einem Masse, das in dieser Intensität selbst auf dem Höhepunkt der Covidkrise undenkbar erschienen wäre: Ex-Militärs räsonieren über Truppenbewegungen und Atomwaffenziele. Friedensforscher versuchen, diplomatische Wege aus dem Krieg zu weisen. Ehemalige Politikerinnen und Politiker erläutern, dass im Umgang mit Russland im Allgemeinen und Wladimir Putin im Besonderen vieles versäumt und verbockt worden sei (aber nie unter ihrer Regie).
Es ist paradox: Experten, sollte man meinen, müssen Laien auch hochkomplexe Vorgänge und Zusammenhänge anschaulich erklären können. Stattdessen machen sie die Lage für Leute, die mit der Materie bestenfalls rudimentär vertraut sind, durch ihre inflationären Auftritte immer verworrenener.
Entsprechend sinkt – sicher nicht nur bei mir – die Bereitschaft, ihnen zuzuhören. Und, vielleicht schlimmer noch: das Vertrauen. Jenes in die Profis, die sich bisweilen im Minutentakt widersprechen, genauso wie jenes in die Medien, welche ihnen immer und immer wieder eine Plattform bieten, auf der sie ihre Theorien – und um mehr handelt es sich in den seltensten Fällen – vor einem eigentlich durchaus interessierten Publikum auszubreiten.
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(Lesetipp: „Im Zeitalter des atemlosen Instantjournalismus, von dem mit der Nachricht auch zeitgleich die Analyse erwartet wird, ist Ratlosigkeit Gift“, schreibt das Redaktionsnetzwerk Deutschland.)
Stimmt auffallend gut.
Und als geneigter Kommentator des Zeitgeschehens wird es unbeschreiblich schwierig, all die Expertenaussagen zu beurteilen und Tatsachen von Meinungen zu trennen.
Andererseits muß ich das schon alleine für mich machen, um mir eine halbwegs fundierte Meinung zu bilden. Alternativ bliebe nur, auf eine eigene Meinung zu verzichten und nachzuplappern, was mir grade spontan gefällt.
Journalist, auf der anderen Seite, wollte ich heute auch nicht sein. Die stehen unter großem Druck und nicht wenige werden wegen „falscher Meinung“ faktisch hingerichtet (s. Martenstein, dessen Meinung ich selten teile, aber den Umgang mit ihm fand ich trotzdem unmöglich).
In Zeiten der Kapselmaschinen wird Kaffeesatzlesen zunehmend schwieriger…