Nur einmal angenommen: Der beliebte und kompetente Sachbearbeiter Peter F. ist jeden Tag angetrunken. Im Betrieb wissen alle über seinen Alkoholkonsum Bescheid. Käme es seinen Kollegen in den Sinn, ihn zu filmen, wenn er lallend mit Kunden telefoniert und schwankend vor dem Aktenschrank steht? Und würden sie den Clip weltweit veröffentlichen?
Eben.
Bei Amy Winehouse ist das etwas anderes.
Wann immer die 28jährige Britin im Geschäft erscheint, wird sie von einer unüberschaubar grossen Horde wildfremder Menschen erwartet, die jede ihrer Bewegungen und jedes ihrer Worte mit Handykameras aufzeichnen.
Nicht alle dieser Leute sind gekommen, um die grossartige Stimme, die sie von „Frank“ und „Back to black“ her kennen, einmal live zu hören.
Manche interessiert nur eines: Wie besoffen ist Amy Winehouse heute? Schwankt sie nur ein bisschen? Oder fällt sie der Länge nach hin? Nuschelt sie bloss? Oder lallt sie wie ein Junkie in der Bahnhofunterführung? Wenn ja: Gelingt es mir, sie dabei zu filmen? Und den Streifen vor allen anderen, die das Schwanken und Lallen ebenfalls aufgenommen haben, ins Internet zu stellen?
Für Letztere dürfte das Konzert, das die Künstlerin am 18. Juni in Belgrad gab geben wollte, ein ähnlich freudiges Ereignis gewesen sein wie für andere eine Hochzeit an Weihnachten: Die bis unter die Hirnrinde zugedröhnte junge Frau schaffte es kaum, sich auf den Beinen zu halten, traf keinen Ton, würgte Textfragmente ins Mikrophon und raunzte Bandmitglieder an. Der Veranstalter hatte ein Einsehen und liess die umhertorkelnde Sängerin von der Bühne holen.
Vermutlich hatte der Tourarzt seine Patientin noch nicht fertig untersucht, als die Videos des denkwürdigen Auftritts auch schon im Netz kursierten und Zigzehntausendfach angeklickt wurden. In vielen Fernseh-Nachrichen verdrängten die Bilder des Winehouse’schen Absturzes die Atomdebatte, EHEC und die Euro-Krise wie selbstverständlich von den besten Sendeplätzen.
Amy Winehouse – oder jemand, der in ihr mehr als einen bis zum Kollaps melkbaren Goldesel sieht – sagte wenig später sämtliche Konzerte ihrer Sommertournee ab. Das Management teilte mit, die Sängerin wolle sich „im Kreis ihrer Familie fernab von der Öffentlichkeit ihren Gesundheitsproblemen (…) widmen“.
„Fernab von der Öffentlichkeit“? Amy Winehouse?
Aber gewiss doch.
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was mit Peter F. eher früher als später passiert, falls er sein Problem nicht in den Griff bekommt: Der Chef stellt ihn auf die Strasse. Dann kann F. sich in ein bodenloses Loch fallen lassen – oder abgeschottet von Druck und Stress eine Therapie machen, seine persönlichen Knoten lösen und später woanders von vorne anfangen. Vielleicht bietet ihm der Chef – das gibts – auch die Möglichkeit, die Krankheit in aller Ruhe zu kurieren, und beschäftigt ihn weiter, wenn er sieht, dass das mit dem Trockenbleiben klappt.
So oder so: Für Peter F. besteht eine Chance, seinem geliebten Beruf irgendwann wieder an einem Ort nachgehen zu können, an dem sich kaum jemand dafür interessiert, was mit ihm einmal los war.
Diese Möglichkeit hat Amy Winehouse nicht. Für sie gibt es nur Sein oder Nichtmehrsein. Entweder rappelt sie sich unter medialer Dauerbeobachtung innert nützlicher Frist aus ihrem Tief hoch, produziert eine hammermässige neue CD und absolviert anschliessend eine triumphale Tournee – oder sie verschwindet so schnell in der musikalischen Bedeutungslosigkeit, wie sie vor acht Jahren aus dem Nichts aufgetaucht ist.
Der suchtkranke Sachbearbeiter Peter F. und die suchtkranke Sängerin Amy W. unterscheiden sich weniger durch ihre Tätigkeit, als vielmehr durch ihr Umfeld: Während ihm niemand wünscht, dass er am neuen Arbeitsplatz mit alten Problemen kämpfen muss, gibt es in ihrem Fall sehr viele Menschen, die es heute schon kaum erwarten mögen, sie bald wieder lallend und schwankend vor sich zu haben. Diese Leute helfen einer Menge anderer Zeitgenossen dabei, mit dem ewigen Scheitern der Amy Winehouse unsinnig viel Geld zu verdienen.
Mein Überlebenskampf ist eure Lebensgrundlage: Das wusste Amy Winehouse an jedem einzelnen Tag, an dem sie arbeiten ging. Und daran wird sich nichts ändern, wenn sie dereinst wieder arbeiten geht.
Wer zwischendurch Mühe hat, sich für den Gang ins Büro zu motivieren, soll sich eine so grosse Hypothek einmal vorstellen. Oder zumindest versuchen, sie sich vorzustellen.
Nachtrag: Dann also: Nichtmehrsein.