Ich weiss nicht, wie manche Leute darauf kommen, sich solche Sachen auszudenken.
Aber ich weiss, dass ich irgendwann, wenn ich das mit der Physik und allem begriffen haben, auch einmal so etwas zusammenbastle.
Etwas noch viiiiiiel, viel Grösseres.
Ich weiss nicht, wie manche Leute darauf kommen, sich solche Sachen auszudenken.
Aber ich weiss, dass ich irgendwann, wenn ich das mit der Physik und allem begriffen haben, auch einmal so etwas zusammenbastle.
Etwas noch viiiiiiel, viel Grösseres.
Wenn ich vom Laptop aufblicke, sehe ich über drei flackernde Kerzen hinweg Chantal auf dem Sofa sitzen; sie hat die Beine in eine weisse Decke gehüllt und liest in ihrem Buch. Wenn die Entspannung ein Mensch wäre: sie sähe genauso aus wie mein Schatz in diesem Moment.
In den letzten drei Tagen haben wir Entspannung und Ruhe sehr klein geschrieben. Die Züglete von Solothurn nach Burgdorf schlauchte uns mehr, als wir erwartet hatten. Zwar hatte ich in der Barockstadt den halben Hausrat liquidiert. Aber was wir in die Emmestadt transportierten, war immer noch mehr als genug.
Nur: Jetzt, wo ich in diesem uralten Haus unter diesen dunklen Balken sitze, die schon Jahrhunderte vor mir da waren und bestimmt auch noch Jahrhunderte nach mir da sein werden, jetzt, wo David Gilmour jede Ritze meines neuen Daheims mit seinen traumhaft-sphärischen Klängen erfüllt, jetzt, wo alles an seinem Ort ist und es nach Kaffee und Wachs durftet und wir aus der wohligen Wärme beobachten können, wie es draussen hudlet und macht – jetzt ist der Chrampf vorbei.
Nichts erinnert mehr daran, dass ich vorgestern im Media Markt meinen neuen Fernseher abholen wollte, obwohl ich die Quittung dafür in meiner unendlichen Weitsicht längst weggeworfen hatte (doch, doch: am Ende hat es geklappt, auch ohne Beleg). Wie wir, zusammen mit Michu und Markus (denen ich von Herzen für ihren Einsatz danke! Ohne sie würde Chantal nun nicht sitzen, wo sie sitzt) das mindestens vier Tonnen schwere Sofa von der einen Wohnung hinunterfugten und durch einen engen, kurvigen Gang in die andere Wohnung im zweiten Stock hochstemmten – fast vergessen. Dass Ikea versäumt hat, den Bettrahmen zu liefern: egal. Das verstauchte Handgelenk, der in zehntausend Stücke zerborstene Spiegel, der kaputte Topf, der Spriessen im Finger: was solls.
Was zählt, ist, dass ich mich – nein: dass wir uns; das ist ja das Schönste von allem – rundum daheim fühlen in diesem Haus, in diesen vier Wänden, in dieser Stadt.
Bis vor ein paar Monaten hätte es niemanden erstaunt, wenn der Pneuhersteller Michelin meinen Bruder als neues Werbemännchen engagiert hätte.
Dann befand mein Brüetsch, jetzt sei genug Heu drunten, beziehungsweise: endgültig zuviel Fleisch Fett am Knochen. Zusammen mit seinem Arbeitskollegen Marco Kugel (sic!) und mit Hilfe eines Personal Coaches stürzte er sich in ein Fitness- und Abnehmprogramm, das ohne Weiteres als sehr ambitioniert bezeichnet werden kann. Inzwischen dürfte er um die 20 Kilo verloren haben und kann sich darauf einstellen, demnächst als Hauptdarsteller der neuen Lätta-Kampagne verpflichtet zu werden.
Anzeichen für ein Comeback der Pfunde gibt es nicht. Ganz im Gegenteil: Genauso, wie Forrest Gump seinerzeit einfach einmal losrannte und dann nicht mehr aufhörte mit dem Laufen, zieht auch mein Bruderherz durch, was er angefangen hat. Als Ziel hatten er und sein Sportsfreund sich ursprünglich gesetzt, im Herbst 2010 den Halbmarathon um den Hallwilersee zu absolvieren. Doch dabei lässt es Urs nicht bewenden. Aus lauter Spass an der Freud‘ nimmt er schon Anfang Mai am Surseer Stadtlauf teil. Und gestern hat er kurzfristig beschlossen, zum ersten Mal in seinem Leben – und weitgehend unbelastet von langläuferischen Vorkenntnissen – am „Engadiner“ zu starten. Falls er sich für weitere Läufe – zum Beispiel den hier – anmeldet: Ich bin der Letzte, der sich darüber wundert.
Als grosser Bruder beobachte ich seine Aktivitäten – vor ein paar Tagen hat er auch noch mit dem Rauchen aufgehört – mit einer Mischung aus einigem Erstaunen, leisem Neid und, vor allem, grossen Stolz. Und merke, dass nicht nur die Älteren den Jüngeren ein Vorbild sein müssten können.
Das funktioniert auch umgekehrt.
Was haben wir miteinander nicht schon erlebt: Aufstiege, Abstürze, Abschiede und Annährungen – also alles, von A bis A, manchmal selber, öfter bei anderen, hin und wieder von Leuten, die wir gar nicht kannten.
Mischa und ich sind uns vor, sagen wir: zehn Jahren in einem Büro zugelaufen. Seither: eben. Ich werde ihm nie vergessen, dass er mich an einem Ort besuchen kam, an dem mich sonst niemand von all jenen besuchte, die vorher fest zugesagt hatten, mich zu besuchen. Er seinerseits erinnert sich bestimmt noch heute mit Freuden daran, wie ich ihm in Freiburg den Weg zu einem Konzertlokal „ganz in der Nähe des Bahnhofs“ zeigen wollte, worauf wir im strömenden Regen beinahe bis Lausanne spazierten. Er weiss vieles von mir, ich weiss vieles von ihm. Wir haben einander also in der Hand. Das machts es für uns ein bisschen schwierig, einander zu erpressen. Aber es bildet eine solide Basis für eine Freundschaft.
Zum letzten Mal gesehen haben wir uns Mitte letzten Jahres. Die Monate dazwischen schrieben wir uns mehr oder weniger regelmässig, es sei schon eine Schande, dass wir uns nicht öfter treffen und versprachen uns fest, das subito zu ändern. Dann machten wir einen Termin ab, wobei wir meist schon in diesem Moment wussten, dass einer der beiden kurz vorher wieder absagen würde. Das machte nichts, weder ihm noch mir. Es war einfach so. Es gehörte dazu.
Heute Morgen war ich gerade mit dem Entrümpeln meines Estrichs beschäftigt und völlig ausser Puste, als er anrief und fragte, wie es so laufe, und ach ja, genau, ich sei ja am Packen. Wann ich jetzt eigentlich nach Burgdorf zügle, wollte er, der fast alles von mir weiss, von mir wissen, und dankte mir für ein Kompliment, das ich ihm nie gemacht habe und hängte dann wieder auf, was mir sehr recht war, weil ich weiter ausmisten wollte.
Wir verblieben so, dass wir etwas abmachen, sobald ich in Burgdorf lebe. Von Burgdorf nach Bern und umgekehrt sinds mit dem Zug 15 Minuten, während man von Solothurn nach Bern fast eine Stunde lang in der Bahn sitzt. Die Verlegung meines Lebensmittelpunktes hat, nebst unzähligen anderen Vorteilen, also noch etwas Gutes: Sie eröffnet mir und ihm die Gelegenheit, uns jederzeit spontan für eine Pizza verabreden zu können.
Ein Essen absagen kann man ja unabhängig davon, wo man wohnt.
„Fast ein Gutschein“, steht auf dem Couvert, das der junge Mann um 6.45 einer der drei Kassierinnen im Laden beim Solothurner Bahnhof schüchtern aushändigt.
Hinter ihm stehen vier Kunden. Er hat keine Zeit für Erklärungen, sie kann oder will nicht fragen, was das bedeute. Sie nimmt das Couvert lächelnd entgegen und legt es neben die Kasse. Man kann durch seine dicke Jacke beobachten, wie sich seine Muskeln im Bruchteil der Sekunde, den sie benötigt, um den Umschlag an sich zu nehmen, entspannt.
Während man darauf wartet, bedient zu werden, überlegt man sich, was wohl in dem Umschlag sein könnte. Und, vor allem: Ob die Verkäuferin und der Kunde einander bereits kennen. Oder ob der Mann die Frau, für die er bisher bloss einer von unzähligen Kunden war, schon x mal an ihrer Kasse hat stehen sehen, sie immer sympathischer fand und nun all seinen Mut zusammennahm, um endlich einen ersten Schritt auf sie zuzumachen. Ob er, wer weiss, gar nichts von der Verkäuferin will, sondern von ihrer Schwester, deren Adresse er nicht kennt.
Vielleicht – irgendwie hofft man das schwer – sitzen die beiden in, sagen wir: zehn Jahren nebeneinander auf dem Sofa. Während sie ihren zwei Kindern beim Spielen zuschaut, sagt er: „Weisst du noch, damals, mit dem Couvert?“. Sie kuschelt sich an ihn, guckt ihm liebevoll in die Augen und antwortet: „Wenn du das nicht gemacht hättest, wären wir jetzt nicht hier.“
jho