Draussen vor der Tür

Aus meinen Nasenlöchern ragten kleine Eiszapfen, als ich gestern Abend die Haustüre aufschliessen wollte. Entsprechend erstaunt war ich, meinen Vermieter im Garten zu sehen: in seinem dicken, braunen Mantel sass er an einem Tischchen; vor sich ein halbes Glas Roten, in den blau angelaufenen Fingern eine Zigarette…und im Gesicht einen Ausdruck tiefster Zufriedenheit und Heiterkeit.

Ich solle ihm doch Gesellschaft leisten, er wolle chli pläuderlen, sagte er, und fragte, ob ich einen Tee wolle, was ich dankend ablehnte, weil es mit seinen Tees immer ein bisschen eine Sache ist; mein Vermieter hat die Neigung, sie mit Stoffen anzureichern, die mir nicht sonderlich zuträglich wären; also setzte ich mich teelos zu ihm und plauderte ein Weilchen mit ihm über Gott und die Welt und die SBB und das Nichtrauchergesetz und das Burgdorfer Bauamt und über eine gewisse Katze, die man Auf! Gar! Keinen! Fall! ins Haus lassen dürfe, und während ich spürte, wie innert Minuten alles Leben aus meinem Körper wich und neben mir zu einer gespenstischen Eisskulptur erstarrte, sagte mein Vermieter auf einmal, er und seine Frau hätten noch einen ziemlichen Käseüberschuss, den sie zu einem Fondue verarbeiten möchten, und ob mein Schatz und ich nicht Zeit und Lust hätten, uns am Freitag an den Käsebergrückbauarbeiten zu beteiligen.

Der Gedanke daran wärmte meine steifgefrorenen Muskeln soweit auf, dass ich es ohne fremde Hilfe schaffte, aufzustehen und in meine Wohnung hochzustaksen. Mein Vermieter blieb sitzen und genoss bei mindestens 20 Minusgraden weiter den für ihn offenbar lauen Abend.

Wenn er, wenn ich gleich aus den Haus gehe, immer noch da höcklet und zum Zmorge an einem Glühwein nippt: es würde mich nur mässig überraschen.

 

Der kleine Tierliebe-Test

Als man gegen Mitternacht heimkommt, stürmts und schneits. Vor der Türe steht eine tiefgekühlte Katze.

Was tun?

a) Man lässt sie hinein. Sie wird die ganze Nacht im Treppenhaus verbringen und kann auch dann nicht ins Freie, wenn sie dringender „müsste“ als ein Besucher des Oktoberfestes nach der fünften Mass. Trotzdem.

b) Man lässt sie hinein. Sie wird die ganze Nacht im Treppenhaus verbringen und kann auch dann nicht ins Freie, wenn sie dringender „müsste“ als ein Besucher des Oktoberfestes nach der fünften Mass. Trotzdem.

c) Man lässt sie hinein. Sie wird die ganze Nacht im Treppenhaus verbringen und kann auch dann nicht ins Freie, wenn sie dringender „müsste“ als ein Besucher des Oktoberfestes nach der fünften Mass. Trotzdem.

Drei Abende später steht das Büsi erneut vor der Türe. Es ist immer noch saukalt.

Was nun?

 

Essen verbindet

Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal schreiben würde: Facebook ist offensichtlich mehr als nur eine Zeitverbrennmaschine. 

Der grösste Teil der Leute, die sich bisher für das Mittelalter-Essen im Burgdorfer Schlosskeller angemeldet haben, wurde wegen entsprechender Mitteilungen auf der Internet-Plattform auf den Anlass aufmerksam. So kommt es, dass der Verein Mythos an dieser Veranstaltung nicht „nur“ Gäste aus dem Grossraum Burgdorf wird  begrüssen können; eine Menge Leute betreiben einen ziemlichen Reiseaufwand, um ein Dîner ohne Salz und Pfeffer, dafür aber mit zeitgemässer musikalischer Unterhaltung von Lautenspieler Thomas Schall und märchenhaften Erzählungen von Ämmefee Maja Furer zu erleben: Mitesserinnen und Mitesser kommen aus Hünenberg, Langenthal, Basel, Stans, Hilterfingen, Biel oder Dübendorf.

Neu ist die Erkenntnis nicht – aber trotzdem sehr schön: Essen verbindet die Menschen.

 

Grosse Musik im kleinen Kreis

Das ging aber schnell: Kaum sind Skinny Machines, eine ebenso talentierte wie sympathische Band aus London, aus dem Emmental nach Great Britain zurückgekehrt, geben die jungen Herren samt dem Burgdorfer Dan Roth am Schlagzeug ein Comeback in der Schweiz. Ende März nehmen sie in Iseltwald ihre erste CD auf. Mit der selbstironisch „Rare Demo“ getauften Minischeibe haben sie bereits einen ersten Schritt auf dem Weg zum Silberling gemacht.

„Von unserem Management auf der Insel haben wir uns getrennt, weil wir endlich vorwärts kommen wollen“, sagt Roth. „Es hat keinen Sinn, monatelang auf einen Termin zu warten, an dem wir ins Studio können. Im dümmsten Fall sind uns die Songs halb verleidet, wenn es irgendwann soweit ist.“ 

Statt weiterhin vom Goodwill eines Bürolisten abhängig zu sein, der sich noch um x andere hoffnungsvolle Musiker kümmert (oder eben nicht), nahmen Skinny Machines die Sache nun selber in die Hand. Und fuhren vor ein paar Tagen mit ihrem alten Lieferwagen voller Instrumente und Equipment erneut von London nach Burgdorf, wo sie Roths Mutter Christine mit Freuden (und, zum Beispiel: Waadtländer Saucissons) verpflegt, beziehungsweise nach Oberburg, wo sie schon bei ihrem letzten Aufenthalt im Emmental eine Wohnung gemietet haben, um sich auf die Plattenproduktion vorbereiten zu können.

Weils nicht schaden kann, sich bis zum Gang in Studio noch ein wenig Live-Routine anzuspielen und weil der Zins ja irgendwie bezahlt werden muss, treten Skinny Machines in diesen Tagen an Orten auf, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Nach einem Engagement im Luzerner „Schweizerhof“ stöpselte der flotte Vierter seine Instrumente am Samstagabend kurzerhand und ohne dafür gross Werbung zu machen, im Café Anna in der Burgdorfer Altstadt ein.

Vier Stühle, ein paar Deckenlampen, ein Mischpult und etwas Strom: Mehr brauchen die Musiker nicht, um den Gig zu einem Ereignis zu machen, an das sich die vielleicht 30 Gäste noch ein ganzes Weilchen mit grossem Vergnügen zurückerinnern werden. Um etwas Abwechslung in den Probenalltag zu bringen und um mal zu sehen hören, wies ohne elektronische Vollverstärkung klingt, betritt das Quartett von der Insel Neuland: Es spielt ein rein akustisches Set. Die erste und einzige Probe dafür erfolgte wenige Stunden vor dem Auftritt, wie Gitarrist und Sänger Jay Marsh in einer Rauchpause vor dem Restaurant sagt.

Mehr zu üben brauchte die Band – die übrigens nicht nur zum Arbeiten in der Schweiz ist – nicht: Harmonisch tiptopp aufeinander abgestimmt, legten die sehr auf eingängige Melodien und knackige Riffs erpichten Alternativrocker zwei Stunden lang musikalische Mosaiksteine nebeneinander, die am Ende ein sehr facettenreiches und gleichzeitig bemerkenswert homogen wirkendes Bild ergeben. 

„Eines Tages“, denkt man, während man sich bemüht, Annas hausgemachtes Tiramisu nicht in einem Stück zu vertilgen und sich fest vornimmt, nicht gleich noch drei Portionen zu bestellen, „eines Tages kommen die ganz gross heraus. Irgendwann spielen die im platschvollen Stade de Suisse, mit ‚Muse‘ oder so als Vorgruppe.“

Das wäre ganz im Sinne von Leadsänger Marsh, der, bei aller Locker- und Liebenswürdigkeit, die er auf der Bühne ausstrahlt, eine ordentliche Portion Ehrgeiz in das Projekt „Skinny Machines“ steckt. Er hat seinen Job für die Musik aufgegeben und begründete diesen Schritt in einem Gespräch mit dem „Independent“ so:  „Being successful in the music industry doesn’t simply come down to raw musical talent. It also needs to be approached as if it were a business, in the same way as being a self-employed plumber or electrician.“  

Andrerseits: Wenn die Jungs erst einmal gross sind, ist es womöglich bis auf Weiteres vorbei mit spontanen und ungekünstelten Mini-Gigs wie gestern bei Anna. So gesehen…

 

Ein Herz in Burgdorf

Da geht ein Licht an, dort singt ein Vogel, weit weg schletzt eine Autotüre: Die Stadt erwacht.

Sie tut das nicht hastig. Es ist, als ob sie sich erst gemütlich räkeln und strecken würde, bevor sie ihre 30 000 Augen öffnet. Ich stehe am offenen Fenster, schaue ihr dabei zu – und fühle mich rundum wohl. Zufrieden. Glücklich. Angekommen. Daheim.

Seit einer Woche lebe ich jetzt in Burgdorf. Erst vor acht Tagen habe ich mich in diesem wunderschönen, uralten Haus am Fuss des Schlosses eingenistet. Und doch kommt es mir vor, als ob ich schon seit einer halben Ewigkeit hier wäre. 

Es stimmt einfach alles: Die Landschaft, das Umfeld, die Menschen. Wenn ich nach rechts blicke, sehe ich dichten Wald auf wuchtigen Felsen. Schaue ich geradeaus, erblicke ich am Horizont die schneebedeckte Jurakette. Hinter dem kleinen Park, der an „mein“ Haus grenzt, beginnt die Oberstadt. Am Donnerstagabend streunte ich ein Weilchen durch dieses angeblich rasant aussterbende Quartier. Von Untergangsstimmung spürte ich wenig bis nichts. In anderen Kleinstädten siehts um diese Zeit tupfgenau gleich aus:  Jugendliche in Kohlesackhosen, Pärchen auf dem Heimweg, einsame Seelen beim vierten Bier.

Die Nachbarn sind mir mit einem ebenso ehrlichen wie unaufdringlichen Zutrauen begegnet, das ich weder in Freiburg noch in Solothurn erlebt habe. Wobei: Nach Freiburg und Solothurn war ich nicht gezügelt, weil ich unbedingt dahin wollte, sondern jobbedingt. In Freiburg schleppte ich Probleme mit mir herum, von denen ich damals noch gar nichts wusste (oder, eher: nichts wissen wollte). In Solothurn: naja. Ich weiss nicht. Wir wurden einfach nie richtig warm miteinander, die Stadt und ihre Bewohner und ich. Aber das kann passieren.

Doch lange, bevor Chantal und ich mit dem vollgestopften Lieferwagen im Alten Markt einfuhren, war mir klar: Burdlef und ich – das passt. In den fünf Jahren, die ich nun in der Emmestadt arbeite, hat mich die Wärme und Herzlichkeit ihrer Einwohnerinnen und Einwohner immer wieder erstaunt. Die Neugierde, mit der ich mich ihnen nicht nur aus beruflichen Gründen nähere, schreckt die Leute in Burgdorf nicht ab; die Menschen scheinen sich vielmehr zu freuen über das Interesse, das man ihn ihnen, ihrer Arbeit oder ihren Sorgen und Sörgelchen entgegenbringt.  

Natürlich freuen sich nicht alle gleichermassen: Manche Burgdorferinnen und Burgdorfer sind grauenhafte Chnorzis. Das macht sie jedoch nicht unsympathisch; ganz im Gegenteil. Der Burgdorfer sagt halt, was er denkt. Und wenn er nichts sagen will, sagt er eben nichts.

Unten auf der Strasse sind jetzt mehr Autos unterwegs als noch vor einer halben Stunde. In der Schmiedengasse machen die Marktleute ihre Stände bereit. Oben, im Schlafzimmer, höre ich Chantal leise stmen. Art Garfunkel singt von seinem „Heart in New York„. Ich schaue aus dem Fenster und freue mich darüber, den leisen Herzschlag von Burgdorf zu hören.

Und, vor allem: ihn ständig zu spüren.

Nachtrag 12.30 Uhr: Kaum hatte ich fertig geschrieben, fielen Millionen von Leintüchern vom Himmel. Sie fallen immer noch. Aber hier stört mich nicht einmal Dauerschnee.