Ob ich wieder meine Zweitfamilie besuchen gehe, fragt meine Frau jedes Mal, wenn ich für ein paar Tage nach Gran Canaria verschwinde. Sie meint das nicht im Ernst – oder ämu nicht ganz – und selbstverständlich sage ich darauf jeweils, wo sie auch hindenke; es gehe mir nur darum, Sonne zu tanken und die Batterien neu zu laden und den Kopf auszulüften und zu lesen und laufen und, vielleicht, chli zu schreiben.
Aber irgendwie hat mein Schatz – wie übrigens immer, eigentlich – Recht. Viele Menschen in Playa del Inglés sind mir inzwischen tatsächlich ähnlich „vertraut“ wie entfernte Verwandte, die man aus Gründen, die sippenintern bestens bekannt sind, über die aber niemand so richtig sprechen mag, weils sowieso keinen Sinn hat, nur alle paar Schaltjahre sieht: Man weiss, wo sie herkommen, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen… und hat doch keine Ahnung, wer – und vor allem: wie – sie wirklich sind.
Aber man wills ja auch nicht so genau wissen.
Ich staune hier einfach darüber, wie sich die Leute am Buffet die Teller bis zum Gehtnichtmehr vollbeigen – und mit ihren Tischnachbarn dann über das lausige Essen meckern.
Ich beobachte sie, wenn sie mit fünfzig anderen Erlebnishungrigen in einen der sechs Busse steigen, die die Touristen zweimal täglich in den Megagiasuperduperwahnsinnsabenteuerpark mit den Delfinen und den Papageien und der grössten Doppelloopingwasserrutschbahn nördlich des Universums karren – und bekomme Stunden später mit, wie sie sich an der Rezeption über die unpersönliche Massenabfertigung in dieser Anlage beschweren.
Ich schaue ihnen zu, wie sie mit ihrem ganzen angefernsehenen Fachwissen über nahöstliche Gepflogenheiten mit einem Senegalesen um eine Sonnenbrille feilschen und empört davonstapfen, wenn der fliegende Händler nach einer halben Stunde sagt, jetzt sei dann aber mal gut; einen Euro fünfzig müsse er für diese original echte Ferraribrille schon haben, sonst nix Bisness, my friend.
Doch wie es hinter den auf Hochglanz polierten Fassaden dieser Leute aussieht, interessiert an Orten wie diesen an Tagen wie diesen naturgemäss niemanden. Es ist auch völlig egal, dass man sich im Hotel oder am Strand oder sonstwo allpott über den Weg läuft und sich trotzdem völlig fremd bleibt.
Wer zuviel Nähe zulässt, riskiert Kratzer im Lack oder, noch schlimmer, dass Wochen nach den Ferien auf einmal das Handy klingelt und Gitte Huber aus Osnabrück dran ist, die mit ihrem Mann damals, auf den Kanaren, in 425 wohnte, „direkt neben Euch; Ihr hattet 423! Wir waren Pälla essen miteinander, und unsere Göttergatten haben vor der Abreise die Telefonnummern getauscht, und Tataaaa!, hier bin ich, um zu fragen, ob Ihr am Wochenende schon etwas vorhabt; es wäre doch schön, wenn wir uns einmal treffen und Erinnerungen….“
Ich verbringe meine Miniferien vor der westafrikanischen Küste jedesmal mit anderen – und im Grunde genommen doch stets mit denselben Typinnen und Typen. Die Hanspeters und Inges und Günthers und Vrenis, die auf diesem Eiland die „schönste Zeit des Jahres“ verbringen, eint unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Beruf und ihrem gesellschaftlichen Status eines: Sie wollen alles genauso haben wie zuhause, aber südländisch temperamentiert und mit mehr Sonne.
Nur: Wehe, der Südländer – sagen wir: der für kaputte Zimmerventilatoren zuständige Handwerker im Hotel – macht mit seiner lehrbuchmässigen Entspanntheit mal Ernst und kommt tatsächlich erst mañana. Dann häscherets in den obersten Rechteggli des Organigramms, dass Dios erbarm, und Felipe VI grad auch noch.
Denn bel all dem krampfhaften Bemühen um Lockerheit mags kaum Abweichungen vom Gewohnten leiden. Hanspeter und Inge und Günther und Vreni kaufen immer am selben Kiosk ihre Zigaretten und die „Neue Post“, sie wählen in der immer gleichen Beiz aus vier Millionen möglichen Speisen die immer gleichen Spaghetti Bolo (wenns hochkommt, ordern sie zum Einstieg tollkühn ein Chnoblibrot, weil: „S ne typische Spezialität hier.“), sie liegen auf den immer gleichen Liegen am Bassin und am Meer und plaudern bei ihren Selbstverbrennungen über immer dieselben Themen (Wetter, Kinder, Fussball-WM; die Reihenfolge kann je nach Fifa ändern), kaufen die immer gleichen Souvenirs und reissen in ihren fünf oder sechs Stammlokalen die immer gleichen Sprüche („heute gönn ich mir mal ein Bier, höhöhö!“)., worauf die immer gleichen Barkeeper und -keepsen immer gleich nachsichtig lächeln.
Das alles weiss aber nur, wer seinerseits…
…und genau das, glaube ich, macht mir die Menschen hier trotz Vielem so sympathisch: Irgendwie sind sie ein bisschen wie ich, und einiges von mir steckt auch ihn ihnen.
Abgesehen davon, dass ich die cooleren T-Shirts habe als als die meisten andern Temporärimmigranten und im Flugzeug nicht jedesmal frenetisch applaudiere, wenn dem Piloten oder dem Kabinenpersonal etwas gelungen ist, unterscheide ich mich gar nicht soooo gross von den Millionen Pauschalualauban auf dieser Insel und sonstwo. Ich rede mir das nur gerne ein, aber auch das tun die anderen ja ebenfalls.
„Todo tranquillo, todo pacifico. Everybody happy“, rapportierte heute Morgen um 4.15 Uhr, wie jeden Morgen um 4.15 Uhr, Manolo, der Securitymann des Hotels, nachdem er seinen nächtlichen Rundgang beendet und eine Kanne Kaffee auf mein improvisiertes Schreibtischli beim Pool gestellt hatte. „Alles ruhig, alles friedlich. Alle sind glücklich“:
Passender hätte er meine letzten zehn Tage auf Gran Canaria nicht zusammenfassen können.
Alles egal….
Ab auf die Insel!