Gigantismus ohne Grenzen

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Monströs, bombastisch, epochal, ausserirdisch, gigantisch: Wer versucht, „The Wall“ von Roger Waters in Worte zu fassen, kann noch so tief in die Kiste voller Superlative greifen; den perfekt passenden Begriff findet er nicht. Die Aufführung berührt soviele Sinne und erzeugt dermassen viele Gefühle, dass die Gedanken an das Erlebte auch dann noch wie Stroboskopblitze durch den Kopf zucken, als die Show längst vorbei ist.

Doch eines ist das Multimediaspektakel, das der Brite am Mittwochabend vor den fassungslos glänzenden Augen von 40 000 Menschen aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten im Zürcher Letzigrundstadion zelebrierte, ganz bestimmt: Das grösste Rock-Oratorium aller Zeiten.

Und die wohl teuerste Psychotherapie, die sich je jemand verschrieben hat: Seit über einem Vierteljahrhundert versucht der 70jährige Waters, den Verlust seines im Krieg gefallenen Vaters zu verarbeiten.

„The Wall“ – das sind eines der meistverkauften Doppelalben (wobei Waters seine damaligen Bandkollegen von Pink Floyd fast mit der Waffe in der Hand dazu zwingen musste, es mit ihm aufzunehmen), ein monumentaler Film plus Konzerte, die im musikalischer, technischer und optischer Hinsicht sämtliche Grenzen sprengten.

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150 Meter breit und zwölf Meter breit ist die Mauer, die sich quer durch das Stadion erstreckt. Eine Woche lang waren zig Arbeiter damit beschäftigt, die Arena für „The Wall“ herzurichten.

Zum Einsatz kamen – nebst Unzähligem anderem – riesige Puppen, Raketen, Feuerfontänen, ein quadrophonisches Soundsystem, atemberaubende Videoprojektionen im XXXXL-Format, ein Kinderchor, ein überlebensgrosser fliegender Eber, eine echte plus eine künstliche Begleitband, eine beklemmend realistisch in die Menge knatternde Maschinengewehrattrappe sowie ein grosses Modellflugzeug, das auch an diesem 11. September quer durchs Stadion raste, in die aus Kartonquadern bestehende Mauer krachte und dahinter in Flammen aufging.

Krieg und Frieden, Hass und Liebe, Dürre und Völlerei, Verderben und Leben: Darunter tuts es Roger Waters nicht.

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Dass sich auf seinem weit über zweistündigen Trip zwischen (s)einem dunklen Gestern und dem mutmasslich noch finstereren Morgen immer mal Widersprüche auftun, schadet dem Rundumerlebnis kein bisschen. Waters wettert vor einem Publikum, das pro Sitzplatz mehrere hundert Franken bezahlt hat, über den Kapitalismus? Kein Problem. Der notorische Egoist, der Pink Floyd im Alleingang gesprengt hat, verteufelt jeden, der seine Eigeninteressen rücksichtslos auf Kosten anderer durchsetzt? Völlig egal.

Der Mann, der die meiste Zeit in einem ärmellosen T-Shirt und zwischendurch in einem an die Nazis gemahnenden schwarzen Mantel am Bühnenrand steht, hat Jahrhundert-Alben wie „Dark side of the Moon“ und Überhits wie „Wish you were her“ (mit)komponiert; von „Another brick in the wall“ ganz zu schweigen. Dieser Mann ist aufgrund seines Palmarès längst unantastbar gworden; ein Genie war er vermutlich schon immer.

Interessant ist, dass in dieser denkwürdigen Nacht nicht die ganz grossen Hits wie „Another brick in the wall“ oder „Comfortably Numb“ am meisten imponieren. In diesem perfekt orchestrierten Wummern, Donnern, Jaulen und Schreien wirken die leiseren Songs („„Mother“, „Young Lust“, „Goodbye Blue Sky“ oder, ganz stark: „Hey you“, von Waters unmittelbar nach der Pause ganz alleine vor der Mauer vorgetragen) wie kleine Inseln, auf denen man kurz durchatmen kann, bevor der Feldherr einen aufs nächste Schlachtfeld führt.

(Weitere Kritiken: „Die Mauer ist durchlässiger geworden“, NZZ, und „Eindrückliches Spektakel und ein Fehltritt“; Aargauer Zeitung)

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