Neulich lud mich jemand zu einem „Gathering“ über ein schampar wichtiges Thema ein. Ich habe keine Ahnung, was ein „Gathering“ ist, muss mich mit dem Nachschlagen im Fremdwörterduden allerdings nicht sonderlich beeilen: Kaum angekündigt, wars abgeblasen.
Ersatzlos gestrichen oder auf unbestimmte Zeit vertagt wurden coronabedingt auch zig weitere Veranstaltungen mann*frauigfaltigster Art, aber das interessierte irgendwie keinen Menschen. Ich zum Beispiel schickte den 200 Mitgliedern des Altstadtleists eine Mail, in der stand, dass die Hauptversammlung vom 15. April nicht stattfinde, und rüstete mich geistig für ein grosses Wehklagen aus den Reihen unserer Jünger und Älter, doch die Anzahl der Reaktionen betrug bis heute null (in Zahlen: 0).
Der Nachtmarkt und das Let it Beer-Festival , das Ostereiertütschen, das Promi-Minigolfturnier, das Santana-Konzert: So gründlich und schnell wie Covid 19 mistet nichts und niemand Agenden aus. Was am 13. März 2020 um 16.29 Uhr noch als fixer Termin galt, war um 16.31 Uhr Makulatur oder – Achtung! Wortspiel! – nicht mehr virulent.
„What’s next?“, fragen sich die Eingeborenen am Schlossfuss mit wachsender Besorgnis. Mit der Solätte, die seit Menschengedenken immer am letzten Juni-Montag stattfindet, steht die grösste aller Burgdorfer Sausen schon relativ nahe vor der Haustüre. Ich möchte nicht der- oder diejenige sein, der oder die bald entscheiden muss, ob wir sie reinlasse wolle oder nicht. Die Solätte zu kippen: das wäre, wie wenn Indien erlauben würde, Kühe ohne langes Felllesens zu Cordon bleus verarbeiten zu dürfen.
Ein halbes Jahr später gehts dann für den Samichlaus und das Christkind um to be or not to be. Ein Samichlaus mit Mundschutz und OP-Handschuhen spielt in den gängigsten Fantasien der Menschen aktuell noch eine Nebenrolle, aber möglicherweise kann er seine Wintertour in diesem Jahr nur so oder gar nicht bestreiten.
Vielleicht wäre es für alle Beteiligten ohnehin gescheiter, wenn er seine Klientel als Angehöriger einer höchstgefährdeten Spezies ausnahmsweise via Skype loben und tadeln würde. Die Säckli kann er den Kindern per DHL schicken. Die Schlaueren unter den Kleinen speichern ihre Versli vorab fehlerfrei als Sprachnachricht auf ihre Handys. Wenn sie die Lippen beim Abspielen auch nur halbwegs synchron bewegen, wird der Alte nicht merken, dass es sich bei den Darbietungen um Playbacks handelt.
Indoor-Weihnachten im engsten Kreis und mit gewissen Sicherheitsabständen – wenn rund um den Erdball wegen einer Pandemie nationale Notstände ausgerufen werden, heisst das noch lange nicht, dass Familie Hugelshofer im Jahr 24 nach dieser leidigen Erbgeschichte (ich sage nur „Silberbesteck“) die Friedenspfeife kreisen lassen müsste – wäre für die meisten Internierten der Normalfall.
Geschenkmässig braucht heuer niemand lange nachzudenken: Wenn am 24. und 25. Dezember nicht unter jedem Christbaum zwischen Genf und Chur und Basel und Chiasso mindestens 25 Familienpackungen WC-Papier liegen, verputze ich auf dem Kronenplatz eine selbstgehamsterte Zehnkilobüchse Ravioli, und zwar kalt und von Hand.
Was Silvester betrifft, freue ich mich heute schon auf die Feuerwerke in den Wohnungen zäntume. Besonders prächtig dürften sie in den uralten Bauernhäusern auf den abgelegenen Högern zur Geltung kommen.
Und damit zu something completely different (Monty Python): Der typische Alkoholiker trinkt seine Bierchen nicht alleine unter Brücken. Der typische Alkoholiker schüttet sich nicht zuhause ein Zweierli Roten nach dem anderen hinter die Binde.
Der typische Alkoholiker sucht die Gesellschaft von Leuten, die ebenfalls Alkoholiker sind. Dort fällt er – oder sie – nicht auf. Dann muss er – oder sie – sich nicht verstecken. Dann hat er – oder sie – immer wieder einen Anlass, nachzuladen, weil die Leute um ihn – oder sie – herum ebenfalls laufend noch Eines bestellen und noch Eines und noch Eines und zum Abschluss, weil wir so jung schliesslich nie mehr zusammenkommen werden, noch Eines, und dann noch Eines für auf den Weg, aber damit ist dann wirklich fertig lustig, oder auch nicht.
Der typische Alkoholiker verbringt einen grossen Teil seiner Zeit in Restaurants und in Bars. Die sind jetzt aber alle geschlossen. Von einer Stunde auf die andere wurde plusminus 250 000 Menschen in der Schweiz jede Möglichkeit genommen, soziale Kontakte unter Ihresgleichen zu pflegen. Das heisst: Jeder und jede Fünfte, der und die sich letzte Woche noch in den Gaststätten tummelte, ist quasi heimatlos geworden. Wo sind diese Leute jetzt? Was machen die nun?
Solche und ähnliche Gedanken robbten vorsichtig durch meine vom Nichtstun schon leicht angerosteten Gehirngänge, als ich gestern Abend auf dem Balkon höckelte und beobachtete, wie das Schloss ganz langsam im Dunkeln verschwand.
Vor Kurzem hätte ich noch gehört, wie sich die Gäste in der „Metzgere“ und im „Fuchs & Specht“ fröhlich unterhalten. Ab und zu wäre ein Lachen an meine Ohren gedrungen und manchmal ein Fluchen und gelegentlich das Bellen eines nur unzureichend erzogenen Hundes (also: keinesfalls von Tess).
Männer hätten ihren Frauen fernmündlich mitgeteilt, dass es etwas später werde, und Frauen hätten ihren Männern geraten, heute selber zu kochen („S hett no Lasagne i de Gfüri“), weil sie gerade Sylvia und Maja über den Weg gelaufen seien und es vor der „Spanischen“ grad so gemütlich hätten miteinander.
Stattdessen herrschte nur Stille, zwei Stunden lang. Gegen 22 Uhr legte ich mich ins Bett. Als ich gegen 4 Uhr erwachte, wars immer noch ruhig, und auch jetzt, nachdem der Tag schon ziemlich am Werden ist, deutet wenig darauf hin, dass da draussen irgendetwas passieren könnte, was sich mit dem Begriff „Zivilisation“ in Verbindung bringen liesse, doch das soll auch so sein:
Es ist, kurz gesagt, chly gespenstisch geworden, seit der Bundesrat das öffentliche Leben abgestellt hat. Im Gegensatz zu anderen Gespenstern hat jenes, das jetzt umgeht, aber nichts Gfürchiges an sich. Je stiller es wird, desto weniger Menschen sind unterwegs und desto schneller schwinden für das Virus die Verbreitungsgelegenheiten.
Wenn die Leute nur noch eingeschränkt zäme plaudern können, beginnen sie wieder zu schreiben. Im Verlaufe des gestrigen Tages erhielt ich mehrere Mails, die fast alle mit demselben Gruss endeten: „Pass auf dich auf und bleib gesund“.
Eine Mail mit „Pass auf dich auf“ abzuschliessen: das wäre bis Anfang Woche höchstens Mafiosi eingefallen. Inzwischen gehört die Formel zum Alltag, und das beste daran ist: Anders als die „freundlichen Grüsse“ wirken die „Pass auf dich Aufs“ nicht achtlos-proforma dahergetippt, sondern aufrichtig gemeint.
Überhaupt: Das cheibe Virus hat offenkundig auch positive Seiten. Es (re)aktiviert das Gute in den Menschen. Wildfremde gehen für Wildfremde einkaufen. Hausbewohner, die sich im Treppenhaus jahrelang höchstens ein „Grüessech“ zubrummten, schliessen sich in Whatsapp-Gruppen zusammen. Der Verein HealthyEmmental lancierte spontan eine Plattform, auf der sich Emmentalerinnen und Emmentaler, die Hilfe benötigen, mit Emmentalerinnen und Emmentalern, die helfen wollen, auf eine bewundernswert unkomplizierte Weise verbinden können.
Das ist vielleicht die wertvollste Erkenntnis aus den ersten zwei „Lockdown“-Tagen: Corona macht nicht alles kaputt. Es wird unsere Gesellschaft nicht zerstören – ganz im Gegenteil: Es lässt in ihr verdorrt Befürchtetes erblühen. Und um sie herum hoffnungspendendes Neues wachsen.
Lieber Hannes
Wie wahr, wie wahr ! Herzlichen Dank für die treffenden Worte zur Umschreibung der durch die Schliessung der Restaurants für die Stammgäste entstandenen Situation . So mancher und manche wird sich wieder erkennen – #metoo. Falls du jedoch mit unerzogenem Hund meinen zurzeit ohnehin lädierten Herrn Nils von Tormentill gemeint haben solltest, müsste ich mir rechtliche Schritte ausdrücklich vorbehalten.
Drum: Pass auf dich auf 🙂
Sehr eindrücklich geschrieben! Ich danke Dir!????