Bahnhofmenschen

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„Guetenaabe. Was dörfs sii?“

„Es Cola Zero, mit Iis.“

„Im Fläschli oder im Glas?“

„Im Fläschli.“

So kanns gehen, wenn man, nach ein paar Stunden im Berner Büro, zurück nach Burgdorf kommt und sich nach all der Mühsal, die der Tag so mit sich gebracht hatte, nur noch nach einem sehnt: einem eiskalten Coci mit Eis, im Glas, bevor man vom Bahnhof aus den langen Weg hoch zum Schloss unter die Füsse nimmt, weil man den an Sonn- und Feiertagen nur stündlich fahrenden Bus verpasst hat, weil das mit der Colabestellung chli länger dauerte als geplant, weil das Frölein hinter seinem Tresen offensichtlich nicht den allerbesten seiner Tage verbracht hat, was einem bei den zum Teil doch sehr gspässigen Leuten, die draussen hocken und lärmen und wirken, als ob sie jederzeit bereit wären, für den nächstbesten Schnauz- und Scheitelträger einen weiteren Weltkrieg anzuzetteln, nicht übertrieben erstaunt, dabei (und das nur am Rande und in der vermutlich vergeblichen Hoffnung, dass der Satz wegen dieser kleinen Zusatzschlaufe nicht so lange wird, bis ihn niemand mehr versteht): Die sehen ja nur so aus, mit ihren Glatzen und Stiefeln und Tätowierungen und allem. Tief in ihrem Inneren schlummert in jedem einzelnen dieser Rabauken ein Kind, das sich nach Zärtlichkeit sehnt und nach Geborgenheit und nach SeelenHeil und nach einer Gruppe, in der es sein darf, wie es sein mag, und in der das Wir eine viel grössere Rolle spielt als das von der überforderten Mutter mit ihrem Betäubungsmittelhintergrund und dem sich gar oft – und vermutlich nicht einmal gänzlich grundlos – aushäusig vergnügenden Vater unmittelbar nach der Geburt auf Flohgrösse zusammengequetschte Ich, und jedenfalls verpasste ich, wie glaub schon gesagt, das öffentliche Verkehrsmittel in die Oberstadt, was mir die Gelegenheit bot, mich einmal in aller Ruhe auf diesem Bahnhofgelände umzusehen, auf dem ich bisher nur das Allernötigste an Zeit zugebracht habe, obwohl es ja einen festen Bestandteil meiner Heimat im engeren und meines Lebens im weiteren Sinne darstellt .

Als Erstes fiel mir auf: Im Vergleich zu seinem Pendant in Bern schneidet der Burgdorfer Bahnhof um zig Zuglängen besser ab. Während der HB der Bundesstadt primär aus

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Treppen,

Bäckereien, Fastfoodbuden und Kleiderläden besteht, besticht sein kleiner Bruder im idyllisch-lauschigen Emmental durch seine Natürlichkeit:

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Und seine kleinen Geheimnisse. Seit ich in Burgdorf wohne, frage ich mich, was sich wohl hinter

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dieser Türe an einem Holzpfosten

beim Busterminal verbergen könnte. Eine Notwohnung für spät heimkehrende Chauffeure? Ein Liebesnestchen für kein Hotelzimmer mehr findende Flitterwöchner? Eine Vorratskammer? Ein Internet-Ausspähposten des Eff-Bii-Ei?

Chasch tänke:

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Noch eine Türe, nur umgekehrt, im Prinzip, aber doch nicht ganz.

Wäre doch nur alles so einfach im Leben, dachte ich, als ich einen älteren Mann aus der Unterführung steigen sah, den ich so gut wie immer sehe, wenn ich zum Burgdorfer Bahnhof gehe, und den ich vor Jahren schon einmal vor Gericht erlebt hatte, und bei dem ich mich jedesmal frage, was er wohl so mache, den lieben, langen Tag, ohne Familie und ohne Arbeit und ohne Geld und überhaupt: ohne Halt, nirgendwo, ausser hier, am Bahnhof, wo er niemanden kennt und niemand ihn und wo er so tun kann, als ob nie etwas gewesen wäre.

Solche Typen gibts, natürlich, auch in Bern, und auch dort bemerke ich mit unschöner Regelmässigkeit zwei, drei Gesichter, die zu Menschen gehören, die mir einst ziemlich vertraut waren, und die mich heute bestenfalls erschrecken oder, im Normalfall, völlig unberührt lassen, weil ich mit ihnen nichts mehr zu tun haben will (und auch nichts mehr zu tun haben könnte, selbst, wenn ich wollte).

Sie kommen aus einer anderen Welt, diese Gesichter und diese Menschen, und wenn sie den Bahnhof verlassen, irgendwann, spät am Abend, gehen sie von der einen kaputten Welt in eine noch kapüttere, in eine, die sie nur mit viel Rotwein und Bier oder, wenn sonst grad nichts da ist, Rasierwasser ertragen, und am Morgen sind sie dann wieder im Bahnhof, in ihrer besseren Welt, und sagen sich und jedem, der es vielleicht immer noch hören will (und glauben mag), sie könnten jederzeit aufhören; „verschtahsch: Je-der-ziit!!!“

Der Mann ging von der Treppe zum Kiosk und von dort ins Café. Als er wieder herauskam, suchte er sich mit seiner dreiviertelvollen Stange ein freies Tischchen. Ich sah ihm zu, wie er sich setzte und dachte: Eigentlich braucht es schon huere wenig. Manchmal entscheidet nur ein dummer Zufall oder ein falscher Gedanke oder ein defektes Gen darüber, ob man zu den Bahnhofmenschen gehört oder zu den Glücklichen.

Ich mochte nicht länger grübeln. Auf dem Heimweg nahm ich mir vor, etwas sommerlich-Leichtes über Bahnhofe zu schreiben.

Aber dieser Zug war irgendwie abgefahren.

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