Montag, 1. März 2021, 5.10 Uhr
Schlaflose Nächte haben auch ihr Gutes: Man kann vom Balkon aus beobachten, was sich während einer coronabedingten Ausgangssperre so tut.
„In XY werden die Troittoirs um 19 Uhr hochgeklappt“, heisst es über Kleingemeinden, in denen am Abend nichts los ist. Genau dasselbe lässt sich seit Monaten über meinen Wohnort auf Zeit sagen: sobald die Sonne untergegangen ist, kommt das öffentliche Leben in Playa del Inglés und Maspalomas praktisch zum Erliegen.
Um kurz nach 22 Uhr, wenn schon alle zuhause und in ihren Hotels oder Ferienwohnungen sein sollten, sind nur noch einzelne Menschen unterwegs. Dann wird es ruhig und ruhiger. Gegen Mitternacht ist ausser dem Summen eines Generators im Hotel gegenüber und dem Gezwitscher einiger Vögel nichts mehr zu hören. In fast allen Häusern sind die Lichter erloschen.
Bis gegen 1 Uhr passiert nichts, ausser, dass eine braune und eine weisse Katze miteinander über die Strasse laufen.
Dann überstürzen sich die Ereignisse: vor einem heruntergekommenen Shoppingcenter hält ein Taxi. Gleichzeitig streichen die Scheinwerfer eines Polizeiwagens über den Asphalt in einem Bungalowquartier. Vor lauter Action weiss ich kaum, wohin schauen. Das Taxi fährt los und biegt nach links ab. Die Polizei patrouilliert offenbar nur. Schüsse sind jedenfalls keine zu hören.
Um 2.30 Uhr verstummt die Maschine im Hotel vis-à-vis. Jetzt ist es wirklich totenstill.
3.10 Uhr: Ein leerer Bus rollt über die Kreuzung. Er wirkt seltsam fehl am Platze.
3.15 Uhr: Der Abfluss des nachts leeren Whirlpools 12 Stöcke unter mir gurgelt minutenlang. Wenn ich Stephen King wäre, würde ich auf der Stelle eine Kurzgeschichte über eine vollbusige Versicherungsvertreterin schreiben, die sich nach einem harten Arbeitstag in diesem Becken entspannt. Auf einmal verspürt sie einen Wirbel unter dem Hintern. Sie ahnt nichts Böses und döst weiter. Kurz darauf wird sie durch das kleine Loch im Boden rübis und stübis in die Kanalisation gerissen.
Bevor der Hauswart den Whirlie im Morgengrauen mit frischen Wasser füllen kann, muss er Blut wegfegen, Gehirnmasse herausklauben und Knochensplitterchen entsorgen. Dazu hört er Musik. Als ihm der Zufallsgenerator ein Lied von Xavier Naidoo in die Kopfhörer spült, wird ihm übel.
Ich weiss nicht, wie King immer auf solche Ideen kommt. Das ist doch einfach krank.
20 Minuten später schleicht ein Schatten über die Wand eines Ferienhäuschens neben meinem Hotel. Ich denke: hoppla, ein Einbrecher. Die Silhouette verschwindet im Dunkeln. Etwas scheppert. Wenig später höre ich hinter dem Haus ein Plätschern. Bislet der Dieb in den Garten? Wenn ja: wieviele Liter kann ein Mensch trinken? Das Plätschern kommt näher. Auf einmal sehe ich einen Mann in einer Windjacke. Er hält etwas in der Hand; einen Schlauch. Daraus spritzt Wasser. Ich kombiniere: Der Mann ist nicht zum Klauen hier, sondern zum Rasengiessen.
Gegen 4 Uhr fahren drei Taxis zum Yumbo-Einkaufszentrum. Sechs oder sieben Leute steigen ein. Ihr Lachen ist bis hierher zu hören. In mehreren Häusern wirds hell. Playa del Ingles scheint langsam zu erwachen. Ich sehe das erste Privatauto dieses Tages und weitere Taxis. Dann wieder einen Bus.
Der Gärtner hat seine Arbeit getan. Ein Bäcker parkiert vor dem Hotel. Er entnimmt seinem Lieferwagen eine Kiste und schletzt die Hintertür mit dem Ellenbogen zu. Eine junge Frau stellt ihren Roller auf dem Trottoir vor einem Mehrfamilienhaus ab. Im kalten Licht des Eingangsbereichs sucht sie nach einer Klingel. Die beiden Katzen sind wieder da. Vögel pfeifen.
In zwei Stunden wird die Sonne aufgehen. Ich denke schon lange nicht mehr ans Schlafen. Jetzt wäre es dafür sowieso zu spät.
Abgesehen davon: es war noch spannend, stundenlang nichts zuzuschauen.
Lieber Hannes, vielen Dank für deine unterhaltsamen, intelligenten Texte. Ich lese sie nicht immer, aber wenn ich sie lese, dann mit Freude und Vergnügen. ????????????
Herzliche Grüsse, Fredi
Beneide dich, Hannes, dass du ohne zu schlafen ausgeschlafen bist. Dann die Bäckersbrötchen erobern kannst, den frisch gespritzten Rasen, das neugefüllte Bassin, sowieso den Strand, den langen, leeren… Dass Tess hier ist und du dort bist, löst bei mir andere Gefühle aus. Du sprichst – irgendwie und irgendwo und auch mal ohne Worte – alles an. Und lässt Raum, den wir mit eigenen Gedanken füllen können. Danke dafür.