Himmel und Hölle auf Rädern


(Bild: pd)

„Viele Intercity-Doppelstockzüge bieten unseren jüngsten Fahrgästen eine abwechslungsreiche Fahrt im Familienwagen. Die Kinder können im Mond-Wagen in einer Raumkapsel Mondfahrt spielen oder haben Spass auf der Rutschbahn. Und im Dino-Wagen gibts ein Dino-Memory, einen Spieltisch und ebenfalls eine tolle Rutschbahn.“

Wer schon in einem Familienwagen der SBB von A nach B fahren musste, weil alle anderen Abteile bis auf das letzte Gepäckablagegestell besetzt waren, wird dieses Selbstloblied der SBB kaum mitsingen – ganz im Gegenteil: Er zerknüllt das Notenblatt, schmeisst es an der nächsten Haltestelle grad extra neben einem Ghüderchübel zu Boden und hüpft solange darauf herum, bis ihn zwei Damen von der Bahnhofmission ansprechen und diskret in einen schwach beleuchteten und kaum dekorierten Raum im Untergrund bringen.

Dort übernehmen stämmige Männer in weissen Kitteln den Passagier mit der Jacknicholsonfratze, der „Dino! Dino!“ brüllt und versucht, sich mit der Unterkante seines Halbtaxabos den Kopf abzuschneiden, auf dass die arme Seele endlich Ruhe finden möge.

Zwei Stunden zuvor war seine kleine Welt noch in Ordnung gewesen. Nach einem späten Rückflug von sehr entspannenden Ferien hatte er in Zürich in einem recht schicken Hotel übernachtet (Tipp am Rande: Nummer 120 ist ein Raucherzimmer). Am nächsten Morgen reiste er mit dem Zug nach Hause. Weil an diesem Prachtstag unzählige Menschen auf die Idee gekommen waren, das wäre doch wieder mal was, so ein Reisli per Bahn, hatte er in den normalen Zweitklasswagen null Chancen auf eine Niederlassungsbewilligung.

Beim Gang durch den Gang sah er zig Kinder, die friedlich lasen, assen, auf Papis iPad Helikopter abschossen oder sich miteinander unterhielten(!). Als er schon befürchtete, beim nächsten Schiebetüreaufschletzen von einem Windstrudel aus dem letzten Wagen gesogen und auf den Schotter geschmettert zu werden, wo er, langsam verblutend, um Hilfe schreien würde, bis ihn der nächste Schnellzug taktfahrplangenau zermalmt, entdeckte er einen freien Platz.

Eine Rutschbahn und ein Klettergerüst waren nicht das, was er jetzt ums Töten gebraucht hätte (für manche Leute ist das das absolute Minimum dessen, was die SBB zu bieten haben) – aber knapp anderthalb Stunden lang vor der Toilette zu verbringen und Wildfremden beim Geschäftemachen zuzuhören, stellte für ihn keine Alternative dar.

(Der Film entstand nicht während dieser Fahrt. Aber er hätte während dieser Fahrt entstehen können.)

In der „Familienzone“ hatten es sich drei Elternpaare mit zwei Buben und zwei Mädchen…nunja…gemütlich gemacht. Wer zu wem gehörte, war für den Fremden nicht auszumachen. Dafür erkannte er binnen Sekunden: Er war mitten in den Jahresausflug des Selbsthilfegrüpplis „Mein Kind ist hyperaktiv. Na und? Ist doch nicht mein Problem!“ (MKihNuIdnmP) geraten.

Während Lea (die Namen sind frei erfunden), überlaut wirres Zeug plappernd, Salamirädli und Gürkli auf der Sitzbank drapierte, terrorisierte Kevin die Mitreisenden mit einem Megagiga-Wasserspritzgewehr. Ronnie hockte am Boden und klopfte mit einem Holzwürfel den Takt zu einer Melodie, die nur er hören konnte. Mina versuchte derweil, eine sirupartige Flüssigkeit von einer Petflasche in die andere zu schütten. Als sie sich der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens bewusst wurde, plünderte sie unter grossem Hallo den nächstbesten Rucksack, dessen sie habhaft werden konnte. Luca trat seine Mutter alle paar Minuten ins Schienbein, machte dabei aber wenigstens keinen Lärm.

Die Eltern genossen die „abwechslungsreiche Fahrt im Familienwagen“ (Zitat SBB) auf ihre Weise. Der eine der Väter nuckelte an einem Eistee, den er zuhause garantiert mit einem ordentlichen Schuss Schnaps angereichert hatte. Eine Mutter – nicht die mit dem Schienbein – kämpfte tapfer lächelnd mit den Tränen. Vermutlich begannen sich in ihrem Kopf die Konturen einer Antwort auf die Frage abzuzeichnen, ob es damals, als das Ticken ihrer biologischen Uhr jedes

Motörhead-Konzert

übertönt hätte, wirklich eine gute Idee gewesen sei, einfach mal die Pille abzusetzen und zu schauen, was passiert. Stumm starrte ein anderer Erwachsener aus dem Fenster und tat, als ob er noch nie etwas Fazinierenderes gesehen hätte als all die Industriezonen zwischen Killwangen und Olten. Von Zeit zu Zeit sagte eine Mutter zu ihrem Töchterchen „Tue nööd!“ oder“ oder „Nääi!“ oder „Gahts na?“, was das Mädchen mehr als unverbindliche Empfehlung zur Kenntnis nahm denn als Bitte oder Befehl.

Dem Fremden, der eigentlich nur von Zürich nach Burgdorf fahren wollte und jetzt miterlebt, was passiert, wenn Eltern ihre Schützlinge kurz der Obhut der Siebentage-Kita entziehen, begann zu dämmern: Genau das muss die Mitteland-Zeitung gemeint haben, als sie in einem PR-Text für die SBB redaktionellen Beitrag neulich anerkennend erwähnte, die „Spielplätze auf Rädern“ würden Familien eine „willkommene Entlastung“ bieten und ein „unbeschwertes Reisen“ ermöglichen.

6 Kommentare

  1. Hervorragender Beitrag! Da schaut sogar Jack auf die andere Seite ;-))
    Die Kinder sind – übrigens – noch mehr zu bedauern als die Eltern…
    Gruss, Görgu

  2. Toll geschrieben!

    Ich habe mich – zum Beispiel im Tierpark von Arth-Goldau – auch schon gefragt, ob ich inzwischen zu weit entfernt von dem ganzen Thema „Erziehung“ bin oder ob irgendwas falsch läuft, wenn „familienfreundlich“ mit „erziehungsfrei“ gleichgesetzt wird.

    Kinder sollen sich ja ruhig ausleben dürfen – aber (leider gibt es wohl immer ein „aber“) Grenzen muss es geben und wer soll die setzen wenn nicht die Eltern?

  3. Um auch ein wenig zum Verständnis beizutragen: Mir gehen weder Kinder auf den Sack noch die für sie konzipierten SBB-Wagen. Mir ist auch klar, dass „normale“ Passagiere sich im Familienabteil fehl am Platze fühlen können (oder müssen).

    Was mich stört, sind Eltern, die es erkennbar kein bisschen interessiert, was ihre lieben Kleinen so tun und lassen. Nur einmal angenommen, dein Filius trete seiner Mutter ununterbrochen ans Bein: Würdest du als Vater da nicht irgendwann einschreiten?

  4. Damit Du mich richtig verstehst, Hannes: Nichts gegen Deinen Blog. Ich mag den. Ich mag Deinen Humor und Deine Schreibweise.

    Mein Kommentar betrifft einzig und alleine den Beitrag zum SBB-Kinderwagen. Hey: Der ist genau dafür da, dass auch Eltern im Zug mal zurück lehnen und ein Buch – oder auf dem iPhone Deinen Blog – lesen können.

    Wenns in den anderen Abteilen keinen Platz hat, prangere doch die SBB an, aber doch nicht die Erziehungsmethoden der Eltern im Zug.

    Im Kinderwagen sind nicht spielende Kinder oder tolerante Eltern, sondern Ruhe suchende Ausflügler Fehl am Platz.

    Zur Versöhnung noch ein Blog-Tipp an den Bluesler: Geh doch mal in ein Fumoir eins trinken. Dort hat es Leute, die Rauchen. Über diesen Skandal lässt sich bestimmt genüsslich Wettern.

  5. @ Töbu: Wenn ich geahnt hätte, dass es Leute gibt, die von meinem Blog ein Höchstmass an Relevanz erwarten, hätte ich en Familienwagen-Beitrag nie geschrieben.

    Andrerseits: Gegen die wirklich relevanten Blogs wie zum Beispiel den hier komme ich sowieso nicht an. Also kann ich mir vermutlich auch weiterhin den einen und anderen Gang in den intellektuellen Keller erlauben.

  6. Mir kommen – wie dieser Mutter im Familienwagen – gleich die Tränen. Mein Mitleid mit dem Bluesler ist grenzenlos.

    Schaff Edir doch einen Privatjet an oder kauf eine Limousine samt Chauffeur; zumindest aber ein 1.-Klasse GA.

    Über Kinder im Spielwagen zu jammern, ist weltklasse-stupid. Dem Bluesler gehen wohl die Themen aus…

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