In einer bitterkalten Dezembernacht des Jahres 1991 bekam Michail Gorbatschow Besuch: Vor dem Kreml standen die Scorpions. In westlichen Häusern hätten manche panisch die Lichter gelöscht und die Türen verrammelt und mucksmäuschenstill gehofft, dass die Männer da draussen gleich wieder verschwinden. Nicht so der Staats- und Parteichef der Sowjetunion, die damals auseinanderfiel wie ein Pullover mit gerissenen Nähten: Er hatte die Rockstars aus Hannover in seine Residenz eingeladen.
Der Grund dafür war ein Lied. Mit „Wind of change“ eroberten die Scorpions in jenem Jahr die Hitparaden wie einst Alexander der Grosse fremde Länder. Ob im Auto, in der Disco, in der Beiz oder beim Picknick am See: Es dauerte keine zehn Minuten, bis dieses Pfeifen ertönte, das signalisierte: Achtung! Da ist er wieder: Der schlimmste Song aller Zeiten.
Irgendwie war es paradox: Sämtliche Radiologen und DJ’s waren wie besessen von einer Melodie, die – abgesehen von engumschlungentanzversessenen Frischverliebten – kein Mensch hören wollte. Aber weil sie von den berühmten Scorpions stammte, wurde sie gespielt und gespielt und gespielt. Von jemand anderem komponiert, wäre sie ungehört im Musikuniversum verdampft.
Und die Melodie war (und) ist noch nicht einmal das Grauenhafteste an „Wind of change“: Bei Menschen, die bei einer guten „Woke up this morning. My baby was gone“-Geschichte auf die Knie sinken, um hektoliterweise Freudentränen über diesen mörderisch schönen Blues zu vergiessen, rollen sich die Zehennägel jedes Mal nach hinten, wenn Sänger Klaus Meine zu seinen pseudotiefsinnigen Betrachtungen über russische Soldaten anhebt, die voller Ostwest-Versöhnungshoffnungen durch den Gorky-Park stapfen und über Kinder, die ihre Träume von einem friedlichen Morgen miteinander teilen und über eine Zukunft, die in der Luft liegt und über Erinnerungen, die in der Vergangenheit vergraben sind, und zwar für immer.
Michail Gorbatschow aber hatte in seinem Leben als Bürger der Sowjetunion – und vor allem als deren Staatschef – schon so viel durchgemacht, dass ihm „Wind of change“ weniger als zusätzliche Bedrohung aus dem Westen, als vielmehr als Offenbarung erschien. Für ihn war die Ballade der Soundtrack zu seiner „Glasnost„- und „Perestrojka„-Politik, mit der er der Welt einen unvorstellbaren Wandel bescherte: Russland implodierte. Die Berliner Mauer zerbarst in ihre Einzelteile. Der Kalte Krieg war vorbei. In Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern gabs plötzlich Bananen.
Für die Lederjacken- und Nietenfraktion waren die Scorpions nach ihrer Visite am Roten Platz gestorben. Der Band, die sich jahrelang einen ausgezeichneten Ruf als Heavy Metal-Combo erarbeitet hatte, konnte das egal sein: Ihre Platten wurden fortan von Menschen gekauft, zu deren Lebensfixpunkten Rosamunde Pilcher-Romane und „Wetten, dass?“ zählen und die zähneklappernd auf die andere Strassenseite huschen, wenn ihnen auf dem Trottoir ein Mann mit langen Haaren entgegenkommt.
Diese Leute freuen sich darüber, wenn ihr Lokalradio sie nach dem Motto „Die grööschte Hits us de Achzger und Nünzger und s Beschte vo hütt“ gefühlte zehn Mal pro Tag mit „Wind of change“ beglückt; dem Lied, das manche ohne rot zu werden als „Symbol für die Wiedervereinigung Deutschlands“ betrachten.
Wer – wie ich – gedacht hatte, dass es nach dem Original nicht noch übler kommen könnte, wurde eines Schlechteren belehrt: Der international renommierte Querflötist James Galway und der ebenso prominente Tenor José Carreras nahmen eigene Variationen von „Wind of change“ auf.
Ich gehe davon aus, dass in Guantanamo kein Folterinstrument öfter eingesetzt wird als diese CD’s. Falls der Verdächtige auch nach zehn Tagen „Wind of change“ in Flöten- und Opernfassung nicht gesteht, kapituliert er spätestens, wenn die Spezialisten von CIA fies grinsend die gregorianisch inspirierte Choral-Version der „Hymne zur Wende“ in die Stereoanlage schieben.
Dann packt er aus. Dann sagt er, wo sich die Bösen verstecken. Dann kann man sich mit ihnen versöhnen.
Und schwupp: liegt wieder eine Zukunft in der Luft.
(Weitere Songs des Grauens können – gerne auch begründet – in den Kommentaren verewigt werden.)
Den in jeder denkbaren Version elenden, üblen und tödlich nervigen Condor habe ich nicht erwähnt, weil ich hoffte, dass er dadurch schneller dem Vergessen anheim fallen würde.
Aber daraus wird jetzt wohl nichts. Schönen Dank auch.
……..und was ist mit „El condor pasa“, gespielt von einer psoidosüdamerikanischen Poncho-Combo in der heimeligen Bahnhofsunterführung? Bei diesem Lied hört man jedes einzelne Instrument, wie wenn es auf einer separaten Tonspur vom Kassettli käme. Kommen muss.
Da kannst du noch so über diese Deutschen pfuttern- Dieses 1000 + 1 mal verhunzte Lied ist so schlimm, dass du gar kein Pfeiffen brauchst, um dir dasjenige selbige am Trommelfell zu verursachen.
Akustisch bereits hart an den Säulen des Tores von Hades bereitet dazu das Visuelle eifach nur noch Augenkrebs.
Grausig, grausig, grausig…!