Der beste Stoff liegt vor der Haustüre

In meinem Briefkasten lag gestern ein dickes Couvert. Darin steckten ein paar Ausgaben des Wynentaler Blattes. Geschickt hat sie mir Martin Suter. Er ist seit gut einer Ewigkeit dessen Chefredaktor.

Sieben Jahre lang habe ich unter mit ihm für die „Lokalzeitung im Seetal, Wynental, Ruedertal, Suhrental, Michelsamt“ gearbeitet. Ich berichtete über sensationelle Dorffeste, analysierte hochdramatische Fussballspiele, rapportierte emotionsgeladene Gemeindeversammlungen, interviewte Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Sport, lobpreiste Konzerte von einheimischen Musikschaffenden, blies lokale Gewerbeausstellungen zu Weltformatgrösse auf, ging tagelang der Frage nach, ob der Region eine Waschbäreninvasion bevorstehe und tippte mich – wie mein Chef auch – an den Rand der Erschöpfung, als der Pfeffiker Zigarrenfabrikant Kaspar Villiger als Nachfolger der über ein Telefongespräch gestolperten Elisabeth Kopp in den Bundesrat gewählt wurde.

Es war, um es mit der Band „Juli“ zu formulieren, eine in jeder Hinsicht geile Zeit.

Und nun, 20 Jahre später, liegt wieder ein „Wynentaler“ vor mir. Er sieht, von Nuancen abgesehen, tupfgenau gleich aus wie 1995, jenem denkwürdigen Jahr, in dem Monika Fasnacht mit dem „Donnschtig-Jass“ tout Beinwil am See in helle Aufregung versetzte. Und damit auch uns Journalisten ordentlich auf  Trab hielt:

Gut (oder vielmehr, nicht gut): Die Auflage war, wie bei allen anderen Schweizer Zeitungen, schon beeindruckender als heute. Doch Konzessionen an all das, was hochbezahlte „Medienexperten“ im sich lichtenden Blätterwald predigen, werden an der Zwingstrasse 6 in 5737 Menziken trotzdem keine gemacht.

Der Online-Auftritt des „Wynentalers“ wirkt, als ob das Internet erst vorgestern erfunden worden wäre. Leserführung? Themengewichtung? Wozu auch. Wer das Wynentaler Blatt zur Hand nimmt, braucht keine Orientierungshilfen; er oder sie studiert es sowieso von zuvorderst links oben bis zuhinterst rechts unten. Von der allüberall grassierenden Kolumnitis blieben zumindest diese Zeitung und ihre Kundschaft verschont.

Während die Konkurrenz dem beruflich totalabsorbierten Leser und der atemlos zwischen Kita, Ballettschule und Fussballplatz hin- und herrasenden Leserin zuliebe auf immer kürzere Texte und grössere Bilder setzt, widmet der „Wynentaler“ den 1. August-Feiern in seinem Stammgebiet je hundert Druckzeilen plus bis zu vier Fotos und damit durchschnitlich eine halbe Seite.

Auch wenn sich die Bundesfeiern und die nach wie vor zwingend dazugehörigen Ansprachen seit 1292 verblüffend ähneln, werden die Appelle ans vaterländische Gewissen pflichtbewusst notiert und möglichst schon im Titel zusammengefasst: „Heimat ist, wo man sich zuhause fühlt“, erfuhr das Festvolk in Teufenthal, „Achte jedes Vaterland – liebe das eigene“, hiess es in Schlossrued. „Zusammenschluss bedeutet nicht Gleichmacherei“, sagte eine Politikerin in Unterkulm. In Reinach erfuhren die Anwesenden bei Wurst und Wein und Bier und Brot, dass Gemeinden „ein gesellschaftfliches Juwel“ seien. Anderswo zählten mehr die Äusserlichkeiten: „Gemütlich, familiär und mit Aussicht“ wars in Beinwil am See, in Birrwil standen „Dickhäuter auf der Gemeindehauswiese“, in Oberkulm gabs „Sonne, heisse Rhythmen und ‚heisse‘ Themen“ und in Zetzwil eine „eindrückliche Festrede und Höhenfeuer“.


Doch nur aus 1. August-Abhandlungen besteht das vor mir liegende Exemplar nicht. Das ist insofern erstaunlich, als es für kleinere Zeitungen in der sommerlichen Nachrichten-Dürrezeit besonders anspruchsvoll ist, den grossen Leerraum mit möglichst Substanziellem zu füllen. Mit einem überaus „läsigen“ Porträt des neuen Verkaufsladens der Fahnenfabrik Sevelen in Beinwil am See, einem stimmungsvollen und sehr hübsch illustrierten Text über ein Openair-Festival in Menziken, einem im Staatsarchiv recherchierten Rückblick auf das Unwetter 1804, Kürzestgeschichten über Ferienpass-Aktionen, Berichten über Sportanlässe sowie zig News aus Gemeinden, Vereinen und Kirchen segelt das WB scheinbar mühelos durch die Sommerflaute.

Beim Betrachten dieser Ausgabe beschleicht mich zunehmend ein etwas irritierendes Déja-vu-Gefühl. Denn jeder einzelne dieser Berichte hätte – wenn auch mit anderen Protagonisten – schon zu meiner Zeit genau so im „Wynentaler“ stehen können. Es wiederholt sich offensichtlich alles. Immer und immer wieder.

Ich weiss gar nicht: Ist es für die Menschen eigentlich schön, in ihrem Dasein soviele Konstanten zu haben, oder ist es für sie eher mühsam, weil es ihnen zeigt, dass sich letztlich halt doch nur sehr wenig verändert? Dass sich ihr Leben ununterbrochen um die selben paar Fixpunkte dreht?

Ich tendiere zu Ersterem. Und merke gerade: Ich werde langsam alt.

In einem Punkt bin ich mir aber sehr sicher: Auch wenn sich die Leute zu jeder beliebigen Zeit über den Radioaktivitätsgrad in Japan oder die Blutwerte der Bayern-Spieler oder die für Weihnachten prognostizierte Niederschlagswahrscheinlichkeit im brasilianischen Regenwald ins Bild setzen können – über das, was vor ihrer Haustüre passiert, informiert sie in dieser Detailverliebtheit und mit diesem aufrichtigen Interesse für Menschen und deren Umfeld nur „ihre“ Zeitung; zumindest vorläufig noch.

Diesen Trumpf spielt das Wynentaler Blatt wöchentlich zweimal aus. Und erfreut damit jedes Mal knapp zehntausend Abonnentinnen und Abonnenten plus unzählige Leser in Beizen, Wartezimmern und Zügen.

In diesem Sinne: Auf Wiederlesen im Sommer 2031! Und zwar auf Papier – und ja nicht im Netz.

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